Gesinnungen (Alignment for Dummies)

Begonnen von gemüse-ghoul, April 11, 2007, 17:30:46 NACHMITTAGS

Vorheriges Thema - Nächstes Thema

gemüse-ghoul

Da immer wieder gerne Diskussionen über Sinn und Unsinn von Gesinnungen geführt werden, hier mal vorbeugend ein Auszug aus meinem Eintrag "Alignment for Dummies" aus meinem alten Blog:

Eine beliebte These besagt, das Gesinnungssystem von D&D schränke die Personnage zu sehr ein und sei unrealistisch. Doch worum geht es denn überhaupt bei der Gesinnung?

Das manichäische Prinzip der kosmischen Kräfte dürfte den Lesern geläufig sein: Es tobt der immerwährende Kampf zwischen Gut und Böse und der Mensch muss sich in seinem Leben für eine Seite entscheiden. Diese aus dem antiken Persien stammende Vorstellung hat das Christentum nachhaltig geprägt. Trotz ihrer Simplizität dient sie in unserer als real wahrgenommenen Welt als Untermauerung für Ideologien, welche zur Rechtfertigung von verheerenden Kriegen dienen.

Der Schriftsteller Michael Moorcock legte seinen Erzählungen vom Ewigen Helden Elric und seinem dämonischen Schwert Sturmbringer (es existieren übrigens mindestens drei verschiedene Rollenspiele, die darauf basieren; wer sie zuerst aufzählen kann, erhält einen PESA-Orden) einen anderen kosmischen Zweikampf zugrunde: den unbarmherzigen Kampf der Prinzipien von Ordnung und von Chaos um alle Welten und Dimensionen, worin Elric als Herold des Chaos-Lords Arioch eine zentrale Rolle spielt.

Das (A)D&D-Universum ist dagegen komplexer designt als das manichäisch-christliche oder das moorcocksche: seine Metaphysik beinhaltet sowohl die Gesinnungsachse gut-böse als auch rechtschaffen-chaotisch. Die sogenannten Äußeren Ebenen, also die Paradiese und Höllen der Götterwelten, sind nach den Kombinationen der Gesinnungspole und ihres neutralen Mittelpunktes aufgereiht und charakteristisch beschrieben, während Elementar- und Energieebenen die „Inneren Ebenen“ bilden und mit den Gesinnungen nichts zu tun haben. Mehr Informationen findet der geneigte Leser in den Boxen des Planscape-Settings.

Was bedeutet die Metaphysik des Multiversums und der Götter nun für die Personnage? Muss eine chaotisch-böse Personnage nun jedem Großmütterchen die Handtasche stibitzen? Muss sich ein rechtschaffen-neutraler Ritter dem Gesetz eines Tyrannen unterwerfen? Mit der Gesinnung wählt der D&D-Spieler ein übergeordnetes Denkschema, innerhalb dessen die Personnage ihre Entscheidungen trifft, nicht die Handlungsweise selber, welche nur von Umständen und persönlicher Veranlagung abhängen. So funktionieren übrigens auch die Persönlichkeitsarchetypen von Vampire: The Masquerade und Nachfolgespielen. Die chaotisch-böse Personnage hat sicher spektakulärere Ziele als Lebensunterhalt durch Handtaschenklau, falls sie nicht auf Wunsch des Spielers selber kleptoman veranlagt ist; der rechtschaffen-neutrale Ritter wird sich nach grundsätzlichen ethisch-religiösen Prinzipien oder einem Kriegerkodex richten, nicht den willkürlichen Anordnungen eines Lokaldespoten.
Die Gesinnung bereichert also die Personnage, da ihr ein Rahmen für konsistente Handlungsweise und eine Möglichkeit zum expliziten Rollenspiel gegeben wird, statt sie in ein enges Korsett der Spielerunfreiheit zu zwängen.
"Finite players play within boundaries, infinite players play with boundaries." -- James P. Carse, Finite and Infinite Games.

Alles über taktisches Abenteuerrollenspiel:
http://ghoultunnel.blogg.de/ (neu)
http://ghoultunnel.blogspot.com/ (alt)

Olaf Gunnarsson

#1
Das hast Du schön formuliert, viel Klarheit schafft es meines Erachtens nach nicht. Was wäre zum Beispiel Robin Hood? Chaotisch gut oder chaotisch neutral?

Vielleicht bilden die beiden Gesinnungsachsen von D&D eine Orientierung für den Spieler, doch bleibe ich dabei, dass man sie nicht wirklich braucht, da - wie ich an anderer Stelle schon erwähnte - der Charakter einer Spielfigur (und auch eines Menschen) sich an seinem Tun und Handeln erkennen lässt, es sei denn, jemand tut in erster Instanz etwas Gutes, weil er in Letzter etwas Böses vorhat.

Für einen Meister oder eine Spielleitung kann es allerdings recht hilfreich sein, wenn die Spieler sich vor einem Abenteuer oder LARP innerhalb dieser Matrix selbst einschätzen, damit erstere Institutionen den Plot und die Handlung gegebenenfalls ein wenig danach strukturieren können.
Wer behauptet, LARP sei albern, hat noch nicht erkannt wie lächerlich die Realität ist.
----
LARP is not just a hobby - it's a passion.

gemüse-ghoul

#2
Du sprichst es schon an: aus ihrem Tun erkennt man nicht immer die Motive einer Personnage, auch nicht als Spielleiter. Schließlich läuft im Kopf jedes Spielers sein eigener Film ab.
Die Gesinnung wir ja beim Personnagenentwurf gewählt, sie ist bei D&D die einzige auf dem Personnagenbogen vermerkte Flag ( http://skyrock.blogg.de/eintrag.php?id=8 ), die vom System vorgesehen ist. Gibt der SL nicht weitere Flags (Vorgeschichte oder Persönlichkeits-Fragebogen) über das Regelwerk hinaus, kann er das Verhalten der Spieler nicht einschätzen. Dem Spieler hilft es genauso, da er sich bei Personnagenerschaffung so auch Gedanken über die Persönlichkeit seiner Personnage machen muss.
Darüber hinaus hat die Gesinnung ja noch spieltechnische Relevanz (Artefakte mit gesinnungsbezogenen Einschränkungen oder Funktionen; geschützte Tempelbereiche etc.) und ist mit dem Spiel-Universum verankert.

Robin Hood: je nach Version CG oder CN. Hej, er könnte sogar RN bis RG sein, da er -weil ihm Unrecht widerfahren ist- das missbrauchte Recht des Sheriffs von Nottingham mit seinem eigenen Recht des Waldes kontert. Auch hier spielt die persönliche Motivation eine Rolle. Daher sollte ein SL auch sehr zurückhaltend sein mit dem Vorwurf "Das verstößt gegen deine Gesinnung", da man als Spieler viel besser weiß, was die Personnage dabei denkt.
Je nachdem, wie Du bei der Erschaffung die Persönlichkeit / Gesinnung Deiner Robin-Hood-Personnage konzipiert hast, wird das ihre spätere Motivation und Gewissenskonflikte als Vogelfreier prägen. Ohne Gesinnung oder entsprechende Flag wirst Du einfach als Vogelfreier agieren, weil es die Personnage weiterbringt (EP, Schätze). Das ist doch viel weniger befriedigend und schafft viel weniger emotionales Investment durch Development in Play ( http://skyrock.blogg.de/eintrag.php?id=10 ).
"Finite players play within boundaries, infinite players play with boundaries." -- James P. Carse, Finite and Infinite Games.

Alles über taktisches Abenteuerrollenspiel:
http://ghoultunnel.blogg.de/ (neu)
http://ghoultunnel.blogspot.com/ (alt)